Robert Schleusener, Schulleiter der Deutschen Akademie für Osteopathische Medizin (DAOM e.V.)
”Am 22. Juni 1874 pflanzte ich schließlich das Banner der Osteopathie in die Brise …”1
Andrew Taylor Still , Begründer der Osteopathie
Auf den Webseiten offiziellerer und privater Vertreter der Osteopathie fanden sich schon immer allerlei Sätze aus dem historischen Zusammenhang. Angemessene Worten für unser Jubiläum suchend, scheint mir deshalb Karl Valentins Bonmot evident, „es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen“. Manches kann man nicht besser sagen, allenfalls im passenden Augenblick zitieren. Daher stelle ich den Kuchen mal zur Seite, ob das eine Geburtstagstorte ist, werden wir dann noch sehen, und überreiche mein Geburtstagsgeschenk.
Es handelt sich auch um etwas Beredtes und passt ausgezeichnet zu diesem doppelten Geburtstag zum einen der 150 Jahre alten Profession, die wir betreiben und zum anderen der Passion der Bundesarbeitsgemeinschaft Osteopathie, die sich seit 20 Jahren um das curriculare und organisatorische Klein Klein kümmert, mit dem Ziel, gemeinsam Qualität zu sichern. Bei dem Präsent handelt sich um einen Aufsatz, der von mir für diesen Anlass in feierlicher Stimmung ins Deutsche übertragen wurde:
STATISTISCHE UNTERSUCHUNG ÜBER DIE WIRKSAMKEIT DES GEBETS
Der Verfasser war ein bedeutender europäische Gelehrter und Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Francis Galton (1822-1911), also ein Zeitgenosse von Andrew Taylor Still (1828-1917). Der Halb-Cousin von Charles Darwin machte sich in verschiedenen Disziplinen als Naturforscher und Schriftsteller einen Namen. Zum Beispiel entdeckte er mit der „Regression zum Mittelwert“ und dem Korrelationskoeffizienten hoch relevante statistische Phänomene, die seitdem mahnende Begleiter wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse sind; damit auch des osteopathischen.
Galton widmet sich in seinem Aufsatz über die Wirksamkeit des Gebets einer Fragestellung, die vor 152 Jahren die Gemüter wahrscheinlich mehr erhitzte als heute. Da er allerdings auch fragt, „ob betende Menschen schneller genesen als andere unter ähnlichen Umständen“, müssen wir uns gar nicht besonders anstrengen, um aktuelle Entsprechungen zu benennen. Sie finden sich in den Diskussionen über statistische und methodische Signifikanz oder über die der Relevanz komplementärer Medizin im Allgemeinen.2 Auf der Seite der akademischen Medizin finden wir sie unter Anderem in einem “umbrella review” von 20213, der auf das Fehlen qualitativ hochwertiger Evidenz für häufig durchgeführte elektive orthopädische Verfahren im Vergleich mit nicht-operativen Alternativen hinweist.
Wenn wir Galton dabei begleiten, wie er beispielhaft Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen zusammenträgt, sie kritisch würdigt und schließlich eine gut begründete Quintessenz präsentiert, erleben wir einen modernen Denker bei der Arbeit. So macht man das!4
Die bewegenden Worte, mit denen er am Ende seines Textes die Menschen in den Lauf der Zeit einbindet, stimmen optimistisch… erinnere wo du herkommst, gestalte deine Zeit und damit die Zukunft.
Ich sehe diesen Geist in unseren BAO-Schulen. Ich sehe ihn in der Art, wie Modelle und Ideen der alten Osteopathinnen und Osteopathen weitergegeben werden, diese aber auch unter Würdigung ihres historischen Kontextes und unter Anwendung heutiger Fakten und Erkenntnisse vernünftig, kritisch und selbstkritisch ja auch skeptisch bewertet und weiterentwickelt werden. Für diese Arbeit, die vor uns andere geduldig gemacht haben, die viele engagierte Menschen heute tun und die auch in der Zukunft ihre Kümmerer braucht, wünsche ich allen Zuversicht und Kraft.
So, und damit ist es jetzt raus! Bei dem oben genannten Apfelkuchen handelt es sich um Wegzehrung. Nehmen Sie sich ein Stück vom apple pie, das Rezept ist von Carl Sagan.5 Belegt ist er mit Früchten von dem Bäumchen, das gepflanzt wurde, sollte auch morgen die Welt untergehen und für den Fall, dass sie trotzdem glauben, nicht die Zeit finden zu können, den ganzen Aufsatz von Francis zu lesen, hoffe ich, Ihre Neugier zu wecken, indem ich diese kleine Geburtstagsansprache mit den Sätzen enden lasse, mit denen er seinen Gedankengang beschließt:
Die aus Gewissensgründen Skeptischen “können sich auf die unzweifelhafte Tatsache stützen, dass zwischen ihnen und dem, was sie umgibt, eine Verbundenheit besteht, und zwar durch die unendlichen Reaktionen der physikalischen Gesetze, zu denen auch die erblichen Einflüsse gehören. Sie wissen, dass sie von einer unendlichen Vergangenheit abstammen, dass sie mit allem, was ist, brüderlich verbunden sind und jeder seinen Anteil an der Elternschaft einer unendlichen Zukunft hat. Die Bemühung, die Vorstellungskraft mit dieser großen Idee vertraut zu machen, hat viel mit der Bemühung gemein, mit einem Gott zu kommunizieren, und ihre Reaktion auf den Geist des Denkers ist in vielerlei Hinsicht dieselbe. Sie mag das Herz nicht in gleichem Maße erfreuen, aber sie ist ebenso mächtig, um die Entschlüsse zu adeln , und man findet, dass sie in den Prüfungen des Lebens und im Schatten des nahenden Todes Gelassenheit verleiht.“
Hier geht es zum Aufsatz von Francis Galton:
STATISTISCHE UNTERSUCHUNG ÜBER DIE WIRKSAMKEIT DES GEBETS
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1 „Autobiografie Mit einer Geschichte der Entdeckung und Entwicklung der Wissenschaft der Osteopathie“ aus „Das große Still Kompendium“, Andrew Taylor Still & Christian Hartmann, JOLANDOS© 2013
2 https://www.daom.de/osteopathie-eine-risikodisziplin/
3 Blom A W, et al.: Common elective orthopaedic procedures and their clinical effectiveness: umbrella review of level 1 evidence, BMJ 2021;374:n1511 https://www.bmj.com/content/374/bmj.n1511
4 Modern, um nicht zu sagen zeitlos, ist auch Galtons Zuversicht, dass bei so viel waltender Vernunft die zivilisierte Welt auf einem guten Weg ist und gehofft werden darf, dass die Menschheit einer glücklicheren Zukunft entgegen geht. Wenn man bedenkt, welche Schrecken Galton nicht mehr erleben musste, klingt das für uns heute fast naiv. Umso mehr als Galton maßgeblich die Idee der Eugenik prägte, die von seinen Zeitgenossen intensiv diskutiert wurde. In diesem Sinne ist Galton ebenso modern im Irren und Wirren; auch und gerade, wenn er mahnte bei der Eugenik keinen Übereifer an den Tag zu legen, der zu voreiligen Handlungen führe und die Wissenschaft in Misskredit bringen könne (siehe Francis Galton - Nachruf, NATURE 1911) Hannah Arendt, die alle Phasen dieses Übereifers erlebt hat, prägte vor ca. 60 Jahre einen Satz, der, kristallklar und messerscharf, beschreibt, dass intellektuelle Brillanz nicht vor schrecklichen Entwicklungen schützt: „Die Vorstellung, dass es gefährliche Gedanken gibt, ist aus dem einfachen Grund falsch, weil das Denken selbst für alle Glaubensrichtungen, Überzeugungen und Meinungen gefährlich ist.“ (Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, Band 1)
5 If you wish to make an apple pie from scratch, you must first invent the universe.